Auf dem Weg [de]

Auszug aus der Einführung von Joachim Albert, Ausstellung “Phänomen – Raum”:

Der Titel der Ausstellung liest sich zunächst wie eine Präsentation, bei der es um die Erscheinungsformen von Räumen geht, tatsächlich jedoch darf man den Bindestrich zwischen den beiden Worten nicht überlesen, durch den angedeutet wird, dass es dabei um die Nebeneinanderstellung von zwei Begriffen und damit einhergehend der Präsentation von zwei Themen geht: Phänomen – Raum.

Ich will Ihnen somit jede Position für sich vorstellen und dann sehen, ob es letztendlich nicht doch Bindeglieder gibt, die das Vorhandensein beider Positionen hier im Franck-Haus in Marktheidenfeld nachvollziehbar macht.

Beginnen möchte ich mit der aus Korea stammenden Su-Kyoung Yu.

1965 in Kim-Je, Südkorea geboren
Bereits ab dem 5. Lebensjahr Zeichen- und Malunterricht
Studium der freien Malerei und traditionellen asiatischen Malerei an der renommierten Ewha Women’s University in Seoul
Seit 1990 lebt sie in Friedberg und leitet eine eigene Malschule
Seit 1987 zahlreiche Ausstellungen in Deutschland und Korea

Su-Kyoungs Arbeiten hier im Franck-Haus sind im Bereich der Malerei mit Acryl und Tusche angesiedelt, umgesetzt auf großformatigen Leinwänden, die auch nötig sind, denn ihre Bildwelten und die damit erzählten Geschichten sind von großer Komplexität.

Um jene Bildwelten zu verstehen, gewissermaßen einen Schlüssel zu erhalten, um sie betreten zu können, bedarf es einer grundlegenden Erklärung zu den hier präsentierten Werkkomplexen.

Die Serie Auf dem Weg, mit deren Umsetzung SuKoung im Jahr 2015 begonnen hat und die den Großteil ihrer Präsentation in der Ausstellung ausmacht, fußt genau wie die vorangegangene Serie Phänomen (ab 2009) auf einer sehr persönlichen, ein Stück weit auch autobiografischen Erfahrung und damit einer bestimmten Vorstellung der Künstlerin.

Nach dieser Vorstellung geht das Selbst, das ursprüngliche Wesen des Menschen im Laufe des Werdens immer weiter verloren. Ummantelt vom Ego, das sich wie eine Schutzhülle um unser Selbst legt und im Kindesalter zu wachsen beginnt, durch äußere Einflüsse geformt und mit der Zeit immer größer und fester werdend, wird es im Inneren immer weiter zurückgedrängt und gerät irgendwann in Vergessenheit.

„Jeder ist sich selbst der Fernste.“, heißt es in Nietzsches Werk „Zur Genealogie der Moral“.

Wir, die Betrachter, betreten jene Welt durch die Eingänge, die sich auf einer vierteiligen Arbeit -zu sehen oben auf der Empore- befinden. Das Diesseits ist ein reich gestalteter botanischer Ort mit zahlreichen bunten Pflanzen und großen Trauerweiden, die Su-Kyoung als Geschichtenerzähler bezeichnet und vielleicht berichten jene anmutigen Baumriesen dem geneigten Ohr bereits etwas von dem, was hinter den vier Pforten wartet.

In der Welt dahinter findet und entdeckt SuKoung jenes oftmals vergessene oder verloren geglaubte Selbst.

Die Protagonisten jener Welt nennt sie Kinder, androgyn wirkende kleine Wesen. Oftmals muss der Betrachter genau hinsehen, um sie zu entdecken, denn sie verschmelzen wie Chamäleons mit der Umgebung ihrer Welt, sind manchmal so hauchzart dargestellt, dass sie fast unsichtbar werden. Es scheint beinahe so, als wollen sie in ihrer Reinheit, Unverfälschtheit und Ursprünglichkeit nicht entdeckt werden. Wer genau hinsieht, merkt, dass ihre Darstellung sich im Laufe der Jahre verändert. Gingen die Kinder in den frühen Arbeiten der Serie Phänomen noch auf ihren kleinen Füßen durch jene Welt, sieht man sie in späteren Szenen direkt aus einem Baum, einer Wasserlandschaft oder der Erde herauswachsen, ohne Füße, was sie schwerelos erscheinen lässt und eine Verwurzelung mit jener Welt ahelegt, so, als solle sichergestellt werden, dass sie damit auf ewig dort verwurzelt sind.

Sie sind für sich, dann wieder in Gruppen, nebeneinander, beieinander oder miteinander.

In einer Arbeit aus der Serie Auf dem Weg (2016) beobachtet eines dieser Kinder aus einem Baum heraus, sich an einem Ast festhaltend, neugierig eine Gruppe weiterer Kinder, die sich gemeinsam in einem dichten, dunklen Wald befinden. Kleine Lichtpunkte wirken, als würden sie den Kindern helfen, damit die Umgebung zu erkunden. Ein weiteres Kind lehnt für sich an einem Baum, wieder ein anderes steht einer Lichtfigur gleichend für sich und weist den Weg auf jene Stelle, an der sich der dunkle Wald lichtet, der Himmel in einem zarten Blau sichtbar wird und Helligkeit in die Szene bringt.

Die Arbeit hat keinen eigentlichen Fluchtpunkt, vielmehr erscheint ihre Komposition wie das gleichzeitige Nebeneinander mehrerer Szenen, manche dunkler, in geheimnisvollem Schwarz, andere hell in zartem Grün, Gelb und Violett. Diese Gleichzeitigkeit ist ein Merkmal, das sich auch in anderen Arbeiten wiederfindet. Der Raum wird aufgelöst, die Stille, die Su-Kyoungs Welt ausstrahlt, wird spürbar.

Oft grenzen ihre Landschaften an Abstraktion, lösen sich in Farbigkeit auf, verlieren an Form. Als Zauberei bezeichnet die Künstlerin diese Verwandlung, das Verschmelzen von Gegenständlichkeit und Abstraktion, und zeigt, dass man nichts festhalten kann – was eben noch da war, war, was ist, ist und was sein wird, wird sein. Was bleibt, ist nur das Hier und jetzt.

Mit jener innersten Welt steht Sukoung in Verbindung, taucht ein, spaziert durch Vergangenes und löst somit auch Zeit auf.

Bei diesem Eintauchen ist Suykoung ausgestattet mit Dingen, Erfahrungen, die sie in jene Welt hineingibt:

So findet man von Bäumen hängende Streifen, an deren Enden sich Steine befinden. Es handelt sich dabei um ein Ritual aus dem koreanischen Schamanismus, bei dem die Steine auf diese Weise an heiligen Bäumen befestigt werden, um den Blick zu schützen auf dem Weg durch die Welt und so bringen sie auch jenen kleinen Wesen Schutz. Religiöse Elemente existieren auch in anderen Arbeiten, etwa in Form des dichten Beisammenseins einer Moschee, einer Kirche und einem buddhistischen Tempel auf einem Berg – eine persönliche, durchaus kritische Stellungnahme der Künstlerin zum Anspruchsdenken der einzelnen Religionen.

Der Huangshan, der Gelbe Berg, eine chinesische Sehenswürdigkeit im Süden des Landes und ein Motiv, das Sukyoung so oft während ihrer künstlerischen Ausbildung malen musste, findet sich an jenen Orten der Sehnsucht genauso wie durch die Malerei der Romantik inspirierte Landschaften, die einen an Bilder von Caspar David Friedrich denken lassen.

Immer wieder kann man Nivellierlatten und Windsäcke entdecken, damit keiner die Richtung verliert, Grenzsteine markieren Übergange, vielleicht von dieser in jene Welt.

Ein Zeppelin schwebt über eine in einem dichten und intensiven Farbspiel gestalteten Landschaft und wird zur Metapher für kindliche Neugier und den Drang, alles zu entdecken und erforschen. Ein gefalteter Papierflieger gleitet in diese Landschaft hinein, so, als hätte Su-Koung ihn aus dieser Welt losgeschickt, um einen Gruß zu senden an jene Welt der Kinder, mit der sie so intensiv in Verbindung steht. Su-Kyoung entdeckt diese verloren geglaubte Welt in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung, in deren Rahmen ihre Arbeiten oftmals sehr intuitiv und spontan entstehen, als würde ihre Hand aus jenem Innersten gelenkt.

Su-Koung ist eine Weltenreisende, eine in der Natur Suchende, ihre Welten sind Projektionen ihrer eigenen innersten Träume und Wünsche. So entdeckt sich Su-Kyoung dabei selbst – das Selbst, in seiner ursprünglichen Reinheit, noch nicht durch seine Umwelten geprägt und unterjocht, verträumt, neugierig, manchmal schüchtern, unsicher und ängstlich, immer auf der Suche und offen für Neues.

In jener Welt sind diese Eigenschaften im Reinen geblieben. Su-Kyoung öffnet diese Welt, betritt so diese Orte der Sehnsucht und Museen der Erinnerung, beleuchtet Vergangenes und zeigt, dass uns all dies, unsere innerste Welt immer begleiten, da sind im Hier und Jetzt. In einer Dichte aus Farben und Geschichten zeigt sie uns diese Welt und lädt uns ein, einzutreten, zu entdecken und so möglicherweise eine Brücke zum eigenen Selbst zu bauen.